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Entscheidung zur Überwachung von Verteidigergesprächen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

(Urteil vom 28.11.1991 - 48/1990/239/309-310: Auszüge)

 
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Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte:
Freier Verkehr zwischen Untersuchungshäftling und seinem Verteidiger

EMRK Art.6 III lit. c

48/1990/239/309-310
 

Verkündet am 28. November 1991

  1. Aus Art.6 III lit. c EMRK ist das Recht eines Angeklagten abzuleiten, sich mit seinem Verteidiger frei außer der Hörweite Dritter zu besprechen. Dies gilt auch im Fall schwerwiegender Straftaten.
  2. Die Möglichkeit einer Abstimmung der Verteidigungsstrategie mit Rechtsanwälten von Mitangeklagten genügt für sich allein nicht, um vom obigen Grundsatz abweichend eine Überwachung von Verteidigergesprächen vorzusehen. (Leitsatz des Bearbeiters)

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Sachverhalt

Mit seiner gegen die Schweiz gerichteten Beschwerde rügte der Bf. S die Überwachung der Gespräche und des Dokumentenverkehrs zwischen ihm und seinem Pflichtverteidiger während eines siebenmonatigen Zeitraums zu Beginn seiner Untersuchungshaft. Der Bf. war wegen des Verdachts der Brandstiftung und des Gebrauchs von Explosivstoffen in Untersuchungshaft genommen worden. Die Rechtsmittel des Bf. gegen die Überwachungsmaßnahmen waren vom Schweizerischen Bundesgericht zurückgewiesen worden. Der Bf. wurde später vom Appellationsgericht Zürich zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung des Art.6 III lit. c EMRK.


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Auszüge aus den Entscheidungsgründen

I. Zur behaupteten Verletzung von Art.6 III lit. c EMRK

  1. S behauptete eine Verletzung von Art.6 III lit. c EMRK, welcher lautet:

    Jeder Angeklagte hat mindestens (engl. Text) / insbesondere (franz. Text) die folgenden Rechte:

      (...)

       c)  sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten ...

    Er wirft den schweizerischen Behörden vor, seine Zusammenkünfte mit Rechtsanwalt G überwacht und diesem die Einsicht nur in einen sehr kleinen Teil der Akten erlaubt zu haben, so daß ihm die Anfechtung der Beschlüsse über die Verlängerung der Untersuchungshaft erschwert wurde. Die Regierung scheine den Zweck der Konventionsgarantien zu verkennen und die Wirksamkeit der garantierten Rechte mit ihrer erfolgreichen Wahrnehmung zu verwechseln. Diese Rechte und insbesondere das Recht auf den Beistand eines Verteidigers stünden aber nicht nur jenen zu, die sich ihrer zu bedienen wüßten oder über die Dienste eines guten Anwaltes verfugten, sondern sie hätten den Zweck, die Waffengleichheit sicherzustellen. Der freie Verkehr eines Anwalts mit seinem inhaftierten Mandanten stelle in einer demokratischen Gesellschaft vor allem in den schwerwiegendsten Fällen ein wesentliches Grundrecht dar. Es sei daher ein Widerspruch, am Anfang eines Untersuchungsverfahrens wegen der Schwere der vorgeworfenen Straftaten einen Pflichtverteidiger zu bestellen und diesen sodann daran zu hindern, seine Aufgabe frei wahrzunehmen.

  2. Die Regierung unterstreicht unter Berufung auf den Kommissionsbericht, daß das Recht des Angeklagten, mit seinem Verteidiger ohne Behinderung zu verkehren, soweit es in Art.6 III lit. c EMRK implizit garantiert ist, einer Regelung unterworfen werden kann, welche seine Ausübung in bestimmten Fällen beschränkt.

    Die im vorliegenden Fall auferlegte "besonders drastische" Beschränkung sei durch die außerordentlichen Umstände des Falles gerechtfertigt. Die Entscheidungsgründe der schweizerischen Gerichte, welche am besten in der Lage gewesen seien, die Situation zu beurteilen, stützten sich auf zwei wesentliche Argumente zur Rechtfertigung der "sehr ungewöhnlichen" Verlängerung der Überwachungsmaßnahmen: Einerseits den "außerordentlich gefährlichen" Charakter des Angeklagten - dessen Methoden jenen von Terroristen nahekämen - sowie auf das Vorliegen von systematischen Straftaten gegen die Staatliche und gesellschaftliche Ordnung; andererseits auf die Gefahr einer Kollusion zwischen Rechtsanwalt G und den Mitangeklagten. Wie die Anklagekammer des Obergerichts Zürich am 27.6.1985 festgestellt habe, sei dieses Risiko erhöht, wenn ein Angeklagter wie hier der Bf. von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch macht. Auch habe er keineswegs nachgewiesen, daß die von ihm gerügte Überwachung seine Verteidigung beeinträchtigt habe.

  3. Der Gerichtshof stellt fest, daß im Gegensatz zu mehreren nationalen Rechtsordnungen und zu Art.8 II lit. d der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskonvention die EMRK das Recht des Angeklagten auf ungehinderten Verkehr mit seinem Verteidiger nicht ausdrücklich garantiert. Trotzdem ist dieses Recht im Rahmen des Europarats in Art.93 der Mindestregeln für die Behandlung von inhaftierten Personen (Anhang zu Resolution ÄA73] 5 des Ministerkomitees) niedergelegt. Diese Bestimmung lautet:

    Ein Beschuldigter hat vom Augenblick seiner Festnahme an das Recht, seinen Anwalt zu wählen, oder wenn ein solcher Beistand vorgesehen ist, einen Antrag auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, sowie Besuche seines Anwalts im Hinblick auf seine Verteidigung zu empfangen. Er muß in der Lage sein, vertrauliche Anweisungen für diesen vorzubereiten und ihm zu übergeben oder von ihm zu erhalten. Auf seinen Antrag hin sind ihm alle für diesen Zweck notwendigen Möglichkeiten einzuräumen. Insbesondere muß er für seine wesentlichen Kontakte mit den Behörden und der Verteidigung den kostenlosen Beistand eines Dolmetschers erhalten können. Gespräche zwischen Inhaftierten und ihren Rechtsberatern können in Sichtweite, aber weder in direkter noch indirekter Hörweite des Polizei- oder Gefängnispersonals stattfinden.

    In anderem Zusammenhang sieht das Europäische Übereinkommen über die Personen, die am Verfahren vor der EKMR und dem EGMR teilnehmen, und welches für nicht weniger als 20 Mitgliedstaaten einschließlich der Schweiz (seit 1974) verbindlich ist, in Art.3 II vor:

    Bezüglich inhaftierter Personen bedeutet die Ausübung dieses Rechts [das Recht auf, freien Verkehr mit der Kommission und dem Gerichtshof, vgl. Abs. l desselben Artikels] insbesondere daß ... e) diese Personen das Recht haben; im Zusammenhang mit einer Beschwerde an die Kommission und dem darauf beruhenden Verfahren mit dem Rechtsberater, welcher zu ihrer Vertretung vor den Gerichten des Landes, in dem sie inhaftiert sind, befugt ist, zu korrespondieren und sich mit ihm außer der Hörweite irgendeiner anderen Person zu besprechen.

    Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß das Recht des Angeklagten auf Verkehr mit seinem Anwalt außer der Hörweite Dritter zu den wesentlichen Erfordernissen eines fairen Verfahrens einer demokratischen Gesellschaft gehört und aus Art.6 III lit. c EMRK abzuleiten ist. Wenn ein Anwalt sich mit seinem Mandanten nicht ohne eine solche Überwachung besprechen und von ihm vertrauliche Anweisungen erhalten könnte, würde sein Beistand viel von seinem Nutzen verlieren, während es der Zweck der Konvention ist, konkrete und wirksame Rechte zu garantieren (vgl. insb. EGMR, EuGRZ 1980, 664 Tz.33 - Artico).

  4. Die von der Regierung angeführte Gefahr einer "Kollusion" bedarf jedoch näherer Prüfung.
    Nach Ansicht der schweizerischen Gerichte ergaben sich "relevante Anhaltspunkte" für eine solche Gefahr "aus der Person des Verteidigers": Es sei zu befürchten gewesen, daß Rechtsanwalt G mit Rechtsanwalt R, dem Verteidiger von W, zusammenarbeiten werde, welcher der Staatsanwaltschaft Winterthur die Absicht aller beteiligten Rechtsanwälte mitgeteilt hatte, ihre Strategie aufeinander abzustimmen.

    Der Gerichtshof ist jedoch der Ansicht, daß trotz der Schwere der dem Bf. vorgeworfenen Straftaten die Möglichkeit (einer solchen Abstimmung) die gerügte Beschränkung nicht rechtfertigen konnte und daß dafür auch kein anderer ausreichender Rechtsfertigungsgrund vorgebracht worden ist. Es ist nicht ungewöhnlich, daß mehrere Verteidiger zusammenarbeiten, um ihre Strategie aufeinander abzustellen. Im übrigen ist weder das standesgemäße Verhalten von Rechtsanwalt G, welcher vom Präsidenten der Anklagekammer des Obergerichts Zürich zum Pflichtverteidiger bestellt worden war, noch die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens im vorliegenden Fall jemals angezweifelt worden. Zudem hat die Dauer der gerügten Beschränkung sieben Monate überschritten (31.05.1985 bis 10.0l.1986).

  5. Auch das Argument, daß die angefochtenen Maßnahmen dem Bf. nicht zum Nachteil gereichten, weil er mehrere Anträge auf bedingte Entlassung stellen konnte, muß verworfen werden. Eine Konventionsverletzung setzt nicht notwendigdie Zufügung eines Schadens voraus (vgl. neben vielen anderen Belegstellen EGMR, Urteil vom 19.02.1991, Serie A Nr.195-D, Tz.20 - Alimena).
  6. Folglich liegt: eine Verletzung von Art.6 III lit. c EMRK vor.


Hinweis Hinweis:
Das Urteil ist in voller Länge veröffentlicht in EuGRZ 1992, 298.

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 Letzte Änderung:
 am 27.11.1998
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